Dienstag, 4. Dezember 2012

Mietwohnungen als Systemfrage

Man hat argumentativ, aber auch moralisch, einen schweren Stand wenn man ehrliche Wohltätigkeit kritisiert. Selbst dann, wenn sich im Windschatten dieser Wohltätigkeit ein Rattenschwanz an problematischen Ideologiefetzen eingerichtet hat. Die Kommunistische Partei (KPÖ) in Graz dient als gutes Beispiel, warum notwendige Kritik nicht immer angenehm ist.

Darf man Elke Kahr als bekennende Marxistin für die Morde und Brutalitäten aller kommunistischen Regime verantwortlich machen? Nein, selbstverständlich nicht. Michel Reimon liegt natürlich richtig, wenn er Christian Ortner entschieden entgegen tritt. Aber Reimon irrt, wenn er damit die Pflöcke im Weideland der paradiesischen Gutmenschlichkeit allgemeingültig eingeschlagen sieht. Nur, weil man keinen kausalen Zusammenhang zwischen stalinistischen Massenmorden und den "Engeln der Armen", wie Vertreter der KPÖ Graz gerne genannt werden, herstellen kann, reicht das nicht für eine Absolution.

Wenn Reimon argumentiert, in den Werken von Marx und seiner Vorgänger finde sich nicht der Wunsch nach der Vernichtung von Menschen, sondern das Ziel ihrer Befreiung, ist dies beachtlich verklärend. Romantisierend verklärend. Gab es in der Geschichte denn keinen Schießbefehl inklusive dazugehöriger Mauer? Gab es keine niedergeknüppelten und panzergeschwängerten Proteste an unterschiedlichsten Plätzen? Gibt es keine „Bitten zum Tee“, keine allwissend, gottgleichen „primus inter pares“, flankiert von elitären Komitees? Zu behaupten, die Idee des Kommunismus sei eine andere als jene, die in Geschichte und Gegenwart eben verwirklicht wurde, ist kein Zeichen kritischer Distanz. Es ist ein weiterer Beleg romantischer Verklärung. Ja, es gibt Unterschiede zwischen einem real existentem Sozialismus unterschiedlichster Prägung und Schattierung, einem klassischen Kommunismus, einem Stalinismus, einem Marxismus, einem Maoismus und wie sich die Richtungen alle nennen. Wer behauptet, alles das den Sprung der Realisierung geschafft hat sei eine Fehlinterpretation des Ideals und daher zum Scheitern verurteilt, irrt gewaltig. Damit macht man es sich zu einfach.

Es hat seinen Grund, warum Elke Kahr und ihre Gefolgschaft als „Kommunistische Partei“ in Graz antreten und sie sich als überzeugte Marxistin bezeichnet. Es hat seinen Grund, warum die „Kommunistische Partei“ im Programm zur Landtagswahl „für den Abbau des Alten und dem Aufbauen des Neuen“ anmarschiert. „Bis zum definitiven Sieg der kommunistischen Gesellschaft, bis zum Verschwinden der Klassen und damit auch des Staates, der Parteien und der übrigen Klasseninstitutionen, die ihre historische Rolle zu Ende gespielt haben“. Mir wäre keine weitere Partei bekannt, die in ihrem Wahlprogramm derart offensiv für die Abschaffung der Demokratie wirbt.

Nein, die demokratisch zustande gekommenen 20 % für die KPÖ Graz sind nicht problematisch. Wirklich problematisch ist, dass existenzielle Fragen – wie die einer angemessenen Wohnungssituation – im demokratischen Alltag von den übrigen Parteien im aktuellen Wirtschaftssystem nicht mehr für alle zufriedenstellend gelöst werden können. Das lässt die „Systemfrage“, die vor 22 Jahren als entschieden galt, wieder reizvoll erscheinen. Die 20 % in Graz sind für diese „Systemfrage“ keine Vorentscheidung. Sie sollten jedoch als Warnung dienen.


Freitag, 14. September 2012

Kleines Glücksspiel: Gefangen in der Fata Morgana



Das Streben nach Glück gilt als Menschenrecht. Indessen man beim traditionellen Lotto zum Glücksgriff nach den großen Wünschen des Lebens ansetzt, wirken die Erwartungen beim „Kleinen Glücksspiel“ bodenständiger. Doch harmlos wirkendes Automatenspiel um vermeintliche Centbeträge entpuppt sich im Lokalaugenschein als gefährliche Fata Morgana.

„Des is es! Tam, tam, tam. Spuck aus den Scheiß.“ Jakob springt schwungvoll aus dem anständig gepolsterten Lederhocker und gibt dem Automaten vor ihm einen energischen Klapps auf die rechte Flanke. Während seine Augen selig funkeln wiederholt er monoton die leeren Worte: „Tam, tam, tam.“ Die Situation wird von malerischer Märchenmusik begleitet, am Bildschirm vor ihm tanzen vier virtuelle, blonde Frauen mit spitzen Ohren, die dem Feenparadies eines japanischen Animes entsprungen scheinen. Abrupt wird die Melodie unterbrochen und Schüsse, die an ein AK-47 Sturmgewehr erinnern, treten an ihre Stelle. Vereinzelte Knaller, zu Beginn langsam, mit Abständen, die sich in einer wahren Gewehrsalve entladen und schlussendlich in der Zahl 448 münden, die unscheinbar in blutroten Lettern am unteren Bildschirmrand prangert. Eine Frauenstimme aus dem Automat beglückwünscht zum Gewinn, zwanzig Euro und 448 „Actiongames“. Inzwischen haben sich zwei weitere Spieler um Jakob versammelt, bestaunen und gratulieren. Die Frage, wie man sich über zwanzig Euro Gewinn derart freuen könne – schließlich ist der Automat, wie ein Blick auf die Plakette beweist, noch nach dem steirischen Landesglücksspielgesetz bewilligt und sieht einen Höchstgewinn von zwanzig Euro vor – quittieren die Herren mit schallendem Gelächter. „Er hat gerade viereinhalbtausend Euro gewonnen!“

Glückliche Minuten

Jakob ist Ende Vierzig, selbstständiger Unternehmer in der IT-Branche. Mit diesem Gewinn hat er nach eigenen Angaben seinen bisherigen Monatsverlust wettgemacht. Die Kalender-App seines iPhones, mit dem er hastig ein Erinnerungsfoto an diesen Gewinn anfertigt, zeigt den 9. August. Genau genommen hat Jakob, der mit bürgerlichen Namen anders genannt wird, keine  4.500 Euro gewonnen. Er hat zwanzig Euro gewonnen – und 448 Mal die Chance auf zehn Euro, die er sich jeweils in einem separaten Bonusspiel abholen kann. So genannte „Actiongames“.
Daran, mitten in der vermeintlichen Gewinnsträhne aufzuhören, denkt Jakob nicht. „Jetzt wo der Automat endli‘ offen ist und was gibt kann ma doch net aufhören. Das wäre ja a Wahnsinn“, erwartet Jakob einen Gesamtgewinn von „mindestens 10.000 Euro, wenn net mehr“. Der Kellnerin, die ihn pflichtbewusst zum Gewinn beglückwünscht, schmettert er eine unwirsche Bestellung entgegen: „Geh, steh‘ da net so rum und bring‘ ma an Verlängerten.“ 

Glücklose Stunde

45 Minuten später. Der Guthabenstand am Automaten hat sich auf etwas über 2.400 Euro eingependelt. „Des musst da vorstellen, der hat jetzt nur mehr gefressen.“ Jakobs Stirn beginnt zu glänzen, einzelne Schweißtropfen werden auf Stirn und Wangen sichtbar, während er immer energischer auf die zur Verfügung stehenden Automatentasten hämmert. Der Café, der es sich auf einer kleinen Abstellfläche aus Metall neben dem Automaten bequem gemacht hat, ist unberührt und erkaltet. Der Automat klingelt mit einem neuen Musikensemble. „Endlich. 27 Actiongames. Da muss i jetzt aber riskieren.“ Gemeint ist damit die Chance, Gewinne in einem separaten Kartenspiel mehrmals zu verdoppeln. Am Bildschirm wird ein verdeckter Kartenstapel von Pokerkarten simuliert, man tippt darauf, ob die nächste Karte schwarze oder rote Farbe trägt. Liegt man richtig, verdoppeln sich die gewonnen „Actiongames“, bei falscher Wahl verliert man sie. Hastig, scharf an der Grenze zu panischer Hektik, schmettert er zwei Mal auf den roten Knopf. Jakob steht – bedingt durch Rundungsdifferenzen – bei 109 Actiongames. Er zögert und fixiert mit starrem Blick die beiden Farbfelder am Bildschirm. Nach etwa zehn Sekunden bewegt er seine Hand zum roten Feld, zuckt vor dem Erreichen des Bildschirms aufgeschreckt zurück und presst seine Finger auf den schwarzen Bereich. Am Bildschirm prangt die Karte „Herz Ass“.
Jakob verharrt einige Augenblicke regungslos, genehmigt sich nun doch einen Schluck vom Verlängerten und startet weitere Walzendrehungen. Nicht ohne sich lautstark zu beschweren, dass man hier nicht einmal warmen Kaffee bekäme. Nach einer weiteren Viertelstunde hat Jakob genug. Die erwarteten Gewinne sind ausgeblieben, er hält einen vom Automaten ausgedruckten Bon in Höhe von über 1.700 Euro in der Hand. „I hab abschreiben müssen, der hätt alles gefressen. Aber i riskier beim anderen da drüben auf da Blauen.“
„Actiongames“, „Abschreiben“, „Hochdrücken“ und „Automatenfressen“. Subkulturen und Grenzgänger pflegen eine eigene Sprache. Eingekesselt zwischen knapp zwanzig Automaten ist Jakob angekommen. Angekommen in einer Welt, in der 1.742,38 Euro nicht als reales Monatseinkommen, sondern als Basis für „die blaue S“ – die Maximalstufe mit rund zehn Euro Einsatz pro Walzendrehung – gelten.

Glücklich vernetzt

Ein weltweiter Primus unter den Anbietern von Glückspielapparaten, die klingende Namen wie „Beetle Mania“, „Lucky Lady’s Charm“ und „Book of Ra“ schmücken, ist die Novomatic AG. Der ehemalige Wiener ÖVP-Obmann Johannes Hahn, derzeitiger EU-Kommissar für Regionalpolitik in der Kommission Barroso II, werkte zwischen 1997 und 2003 als Vorstandsmitglied der Novomatic AG und schaffte es bis zum Vorstandsvorsitzenden. Sein SPÖ-Pendant Karl Schlögl fungierte ab 2004 bis zu seinem überraschenden Ausscheiden 2011 als Aufsichtsrat. Just wenige Wochen nachdem sich am Parteitag der Wiener SPÖ die Mehrheit der Delegierten für ein Verbot des „Kleinen Glücksspiels“ ausgesprochen hat, kehrt das SPÖ-Urgestein Novomatic den Rücken.

Glückliche Zufälle

Zufälligkeiten sind das Wesen des Glücksspiels. Als Zufall könnte man die Geschehnisse rund um den mittlerweile zurückgetretenen steirischen ÖVP-Landtagsabgeordneten Wolfgang Kasic klassifizieren. Pikant: Wolfgang Kasic vertrat als Spartenobmann für Freizeit- und Sportbetriebe die Glücksspielindustrie in der Wirtschaftskammer.  Just zu jenem Zeitpunkt, in dem sich im steirischen Landtag auf Bestreben der KPÖ und Jungen ÖVP ein Unterausschluss gegen das „Kleine Glücksspiel“ formierte – und dessen Vorsitz er sich sicherte - tauchten in einer von Kasic herausgegebenen Regionalzeitung Inserate der Novomatic-Tochtergesellschaft „Admiral“ auf. Insgesamt wurde laut Kasic im Umfang von rund 60.000 Euro inseriert. Eine Unvereinbarkeit sei für ihn nicht ersichtlich, erst als „Kleine Zeitung“ und „Falter“ die Geschichte aufgriffen, trat Kasic vergangenen Sommer von seinen Funktionen in Politik und Wirtschaftskammer zurück.
Keine mediale Aufmerksamkeit wurde bei einer ähnlichen Zufälligkeit dem steirischen SPÖ-Vorsitzenden Landeshauptmann Franz Voves zuteil. Im März 2008, wenige Monate nachdem der Unterausschuss im steirischen Landtag seine Arbeit aufgenommen hatte, fand sich der Samariterbund Graz im Spendenreigen wieder. Novomatic sponserte dem SPÖ-nahen Samariterbund Graz einen nach Wünschen umgebauten VW-Transporter im Wert von 78.000 Euro. Bei der feierlichen Übergabe am 12. März 2008 anwesend: Landeshauptmann Voves, der „allen Beteiligten, dem Glücksspielkonzern Novomatic und deren Tochterfirma Admiral-Sportwetten GmbH für diese großzügige Spende“ dankt. Ein Foto dokumentiert die feierliche Übergabe im engsten Kreis.
Ein für die Industrie glücklicher Zufall eben, dass der Unterausschuss im steirischen Landtag im Sand verlief und man sich einigte, lieber auf eine Vorlage des Bundes zu warten.
 
Glücklich geködert

Nicht an Zufälligkeiten jeglicher Art glaubt Michael Heiling. Vielmehr habe man es beim „Kleinen Glücksspiel“ mit einer milliardenschweren Branche, die hochprofessionell organisiert sei, zu tun. Mit kostenlosen 50 Cent-Jetons als Zugabe zu Getränken versuche man gezielt den Markt zu erweitern, zudem sei auffällig, dass „ganz stark mit künstlichem Licht gearbeitet wird“. Man wisse drinnen nie, ob es draußen Tag oder Nacht sei und wäre völlig abgeschottet. Michael Heiling ist Aktivist jener „Sektion 8“ rund um Nikolaus Kowall, die am Wiener SPÖ-Parteitag den Antrag für die Abschaffung des „Kleinen Glücksspiels“ durchsetzte. Die Antragsrede von Nikolaus Kowall gehört auf Youtube zu den beliebtesten österreichischen Politvideos.
2010 wurde das „Kleine Glücksspiel“ in einer Gesetzesnovelle auf Bundesebene umfassenden Änderungen unterzogen. „Das Gesetz wurde zwar verbessert, aber es ist so undurchsichtig und kompliziert, sodass mit dieser Regelung gar nichts kontrolliert werden kann“, ist Heiling überzeugt, nachdem er sich intensiv in die Thematik eingelesen habe. Die auffallendste Änderung im „Kleinen Glücksspiel“ ist die Erhöhung des Maximaleinsatzes pro Spiel von 50 Cent auf bis zu zehn Euro, der Maximalgewinn wird von zwanzig Euro auf bis zu 10.000 Euro angepasst. Weitere Adaptierungen wie Zugangsbeschränkungen, eine Anbindung aller Glücksspielautomaten an das Bundesrechenzentrum oder Spielzeitbeschränkungen treten sukzessive bis 2015 in Kraft. Bestehende Automatenbewilligungen behalten bis dahin ihre Gültigkeit, sollen aber nicht mehr verlängert werden.
Die „Sektion 8“ strebt beim kommenden SPÖ-Bundesparteitag ein vollständiges österreichweites Verbot für das „Kleine Glücksspiel“ an. „Das Kleine Glücksspiel ist innerhalb der Basis ein großes Thema“, gibt sich Heiling zuversichtlich, beim Parteitag eine Mehrheit für das Verbot hinter sich zu versammeln. Die Glücksspielindustrie lässt sich von den Diskussionen offensichtlich wenig beirren. Ein Gutachten, nach denen „ein Verbot des Kleinen Glücksspiels keine Verbesserung bewirken würde“, wurde vom Marktanalysten KREUTZER FISCHER & PARTNER lanciert. In der Zwischenzeit werden mobile Märkte erschlossen und neue Zielgruppen angesprochen. Die beliebten Spiele wie „Lucky Lady’s Charm“ sind bereits zum Download für iPhone und iPad verfügbar.

Größere Stücke vom Glück

Ein beträchtliches Stück vom Glück scheint Johann F. Graf, dem Gründer und Mehrheitseigentümer der Novomatic AG, zugefallen zu sein. Das US-Magazin „Forbes“, in dem alljährlich im März eine Liste der reichsten Dollar-Milliardäre der Welt veröffentlicht wird, sieht ihn auf Rang 193. Ex aequo mit Red-Bull-Erfinder Dietrich Mateschitz bei einem Vermögen von jeweils etwa 4 Milliarden Euro. Überall, wo Fata Morganen auftauchen, müssen offensichtlich auch Oasen existieren.

Rechts im Bild der Würfel, für dessen Drehung jeweils 50 Cent abgebucht werden. In diesem Fall (9facher Würfel) drehen sich die Walzen erst nach rund 4,50 Euro. Der Gewinn: 5 Actiongames. Bonusspiele, bei denen man jeweils die Chance auf zehn Euro hat. (Foto: Tafeit)

Samariterbund-Präsident SPÖ-Landtagsabgeordneter a.D. Kurt Gennaro, Landeshauptmann Mag. Franz Voves mit einer Samariter-Mitarbeiterin und der Steiermark-Vertreterin von Novomatic, Patricia Polanz sowie dem geschäftsführenden Präsidenten des Samariterbundes, Peter Scherling, bei der Übergabe des neuen Fahrzeuges (Foto: Landespressedienst Steiermark)


Novomatic tritt als zahlungskräftiger Sponsor in Erscheinung. Unter anderem für das Filmfestival am Wiener Rathausplatz oder für die ORF-Sendung „Dancing Stars“. (Foto: Tafeit)

Sonntag, 19. August 2012

Fall Assange: Europas dunkle Tage

Was man auch angesichts all dieser - teils pöbelnd geführten - aktuellen Diskussionen rund um den Euro von der Europäischen Union und ihrer politischen Vertretung halten mag: Die letzten Tage waren wahrlich dunkle Tage für Europa. 

Wenn man - mit allen Abwegungen wie Geheimnisverrat, Vergewaltigungsvorwürfe bei einer durchaus abstrus anmutenden Auslegung von einvernehmlich ungeschütztem Sexualverkehr, öffentlich geforderter Hinrichtung - die Faktenlage abklärt, ist erschreckend: Man ist geneigt, Ecuador und Konsorten für "die Guten" zu halten. Ja, ist denn die Europäische Demokratie mit ihrer politischen Vertretung noch zu retten? Während sich das politische Europa selbst bei angedrohter Botschaftsstürmung von Seiten Großbritanniens in Sprachlosigkeit flüchtet - das Stürmen von Botschaften war selbst in den kältesten Konflikten der UdSSR ein absolutes Tabu - schwingen sich Ländern wie Venezuela, Kuba und Nicaragua zur Rettung der Demokratie auf. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Eine Europäische Union der Freiheit, der Gemeinsamkeit, der Demokratie - und ja, auch der gemeinsamen Währung - ist jede Anstrengung wert. Jede. Aber wenn eine Europäische Union nicht in der Lage ist, Großbritannien hier klar und deutlich in die Schranken zu weißen und eine Auslieferung Assanges - egal von welchem Europäischen Land - in die USA strikt abzulehnen: Ja, wenn wir dazu nicht in der Lage sind, dann ist es besser, wenn wir es ganz lassen.
Wahrlich dunkle Tage.

Donnerstag, 12. Juli 2012

Im Pokerspiel

Fiskalpakt. Wachstumspaket. ESM. Die ersten drei Karten für die Eurorettung sind vom Croupier ausgegeben und liegen vor uns auf dem Tisch. 

Österreichs rechte Oppositionsparteien können sich mit dem Blatt noch nicht anfreunden und verlangen eine Neumischung. Ernstzunehmende Alternativen zum Pokerspiel gegen die Märkte haben sie keine anzubieten.

Einziger gültiger Einsatz ist in diesem Spiel - in dem es um nichts weniger als die Zukunft Europas geht - die Glaubwürdigkeit. Schafft es Europa die Welt davon zu überzeugen, dass wir unsere hausgemachten Probleme lösen können, steigen wir noch am „Turn“ als Gewinner aus. Gelingt es uns nicht, könnte uns ein amerikanisches Schicksal erleiden. Die USA spielen - mit einem zweistelligen Budgetdefizit und einem gigantischen Leistungsbilanzdefizit - den größten Bluff der Geschichte. Obwohl sie bereits am „River“ angekommen sind zucken sie mit keinem Finger.

Was bislang nonchalant verschwiegen wird: Wir sind längst „All-In“. Die einzige Chance ist den Pot gemeinsam nach Europa zu holen. Ein beruhigender Ausblick. Entweder sind wir alle in Europa Gewinner - oder stehen alle mit heruntergelassenen Hosen da. In beiden Fällen sind wir in guter Gesellschaft unter Freunden. Wer hätte sich das nach den Irrungen des 20. Jahrhunderts träumen lassen.

Dienstag, 10. Juli 2012

Der Dämonenjäger - Ein Portrait des steirischen Piraten

Piraten segeln nicht nur an den Küsten Somalias sondern haben unlängst in den Häfen mitteleuropäischer Innenpolitik angelegt. Philip Pacanda, Piratenparteivorsitzender der steirischen Landeshauptstadt Graz, liegt ein Freibeuterleben fern. Er hat andere Ziele.


un diavolo caccia l’altro – ein Teufel jagt den anderen“ Das auserkorene Leitzitat Philip Pacandas, auf das er zu Beginn des persönlichen Gespräches in akzentfreiem Italienisch verweist, birgt zahlreiche Facetten. Es wirkt passend für den Sprecher einer Partei, die an Facettenreichtum in der politischen Landschaft kaum zu überbieten scheint.

Eigene Meinungen? Ja bitte!
Auffallend im Gespräch ist, dass Philip Pacanda bei politischen Fragestellungen klar Position bezieht. „Der typische Politiker gibt keine Antwort und scheut die Diskussion. Anschließend wundert er sich über die Politikverdrossenheit.“, tritt der Piratensprecher mit dem Ziel an, auf jede Frage eine Antwort zu geben. Und sei es ein ‚Ich weiß es nicht‘. „Das ist dann zumindest eine ehrliche Antwort.“ Bei all diesen politischen Festlegungen handelt es sich aber, wie Philip Pacanda nicht müde wird zu betonen, um seine Privatmeinungen. Die Position der Grazer Piratenpartei müsse in vielen Fällen erst ermittelt werden. ‚Liquid Feedback‘, ‚Arbeitsgruppen‘ sowie eine in Entwicklung befindliche Handy-App sollen hierbei helfen.
Mit Freibeuterei habe der politische Anspruch der Piraten aber nichts gemeinsam, so ein lächelnder Philip Pacandas, der im selben Atemzug mit nun ernster Miene auf die politische Realität verweist. Eine Realität, in der es sich seiner Ansicht nach – blicke man auf all die unterschiedlichen Korruptionsskandale – etablierte Parteien als Brandschatzer bequem gemacht haben. Die Erhöhung der Parteienförderung wertet er als Bestätigung dieser These. Lediglich mit der von ihm propagierten „absoluten Transparenz“ könne man dieser politischen Korrumpierung entgegentreten. Es müsse bis auf den Cent transparent sein, wofür Steuergeld ausgegeben werde. „Wenn ein Hundebesitzer selbst nachsehen kann, welcher Prozentsatz der Hundesteuer in den Ausbau von Parkanlagen gesteckt wird und wie viel in der Verwaltung versickert, verringert das die Politfrustration immens.“, ist der Pirat überzeugt. Wichtig sei es jedoch, die Informationen mit modernen Wissensmanagementplattformen für den Bürger verständlich zur Verfügung zu stellen.

Zusammen ist man weniger alleine
Beruflich hat der studierte Strategie- und Innovationsmanager bei einer renommierten Consultingfirma seine Heimat gefunden. Als Campus02-Absolvent - der Fachhochschule der ÖVP-dominierten Wirtschaftskammer – hätte er durchaus die Chancen gehabt, sich in etablierten Parteien zu engagieren. Abgeschreckt habe ihn bei den alten Gruppierungen ein frustrierende Sesseldenken. Bevor man sich nicht jahrelang durch die Parteistrukturen gedient und gesessen habe brauche man seiner Erfahrung nach keine inhaltlichen Ideen zu äußern, da diese nicht ernst genommen werden. Bei den Piraten sei dies anders. Jeder Interessierte könne ohne Formalismen mitmachen und sein Fachwissen einbringen. Angst, von anderen politischen Parteien unterwandert zu werden oder dass die kollektive Schwarmintelligenz versagen könnte, habe er nicht. „Je mehr Leute an einer Diskussion beteiligt sind umso besser ist das Ergebnis. Wichtig ist die systematische Organisation dieser Debatte.“ Ein Herzensanliegen sei ihm der Brückenschlag zwischen der ‚Virtual Reality‘ und ‚realen Treffen‘. Philip Pacanda ist überzeugt, dass lediglich eine Kombination von beiden mittelfristig zum Erfolg führen könne. Die grundsätzliche Bereitschaft sei – betrachtet man die Erfolge der ‚Location Based Services‘ – dazu mehr als gegeben.
In diesem Zusammenhang sei auch die Datensammelwut von sozialen Netzwerken oder Regierungen kein grundsätzliches Problem. Problematisch könne nur die falsche Verwendung der gewonnen Informationen werden. Angenommen die Grazer Stadtregierung wisse aus Bewegungsprofilen, dass der Stadtpark diesen Sommer um 40 Prozent mehr genützt wird. „Entscheidungsträger könnten darauf reagieren, zusätzliche Wasserspender aufstellen oder die Rasenpflege intensivieren.“, so die für einen Datenschützer und Netzaktivisten ungewöhnliche Argumentationslinie.

Auf zu neuen Ufern
Die ständige Erreichbarkeit, die laufenden Diskussionen und Feedbacks fordern natürlich ihren Tribut, wie Philip Pacanda eingesteht. Im Moment sei seine Aufgabe bei den Grazer Piraten aber „der beste und spannendste unbezahlte Job, den ich je gehabt habe“. Die kommende Grazer Gemeinderatswahl im Jänner 2013 wird zeigen, ob Philip Pacanda der Politik mit seiner Mannschaft die vermeintlichen Dämonen auszutreiben vermag. Oder sein Schiff an den Wahlurnen sang- und klanglos kentert.